Warum ein Keiler die archäologische Sammlung der Uni Rostock so berühmt macht

Erste Gäste anlässlich der Neueröffnung der Abguss-Sammlung im Jahr 2019 (Foto: Universität Rostock/Julia Tetzke).
Blick in den vorderen Lichthof der Abguss-Sammlung in der Jakobi-Passage mit griechischen Skulpturen und Reliefs (Foto: Universität Rostock/Julia Tetzke).
Blick auf den mittleren Lichthof der Abguss-Sammlung mit dem ‚sitzenden Keiler’ (Foto: Universität Rostock/Julia Tetzke).
Der Kustos, Dr. Christian Russenberger, und der Keiler (Foto: Universität Rostock/Julia Tetzke).

„Es ist ein außergewöhnliches Stück mit hoher künstlerischer Qualität und einer starken Wirkung auf den Betrachter“, sagt der Kustos der Sammlung, Dr. Christian Russenberger, über den frisch restaurierten Gipsabdruck. „Wir sind die einzige Antikensammlung in Deutschland, die einen Abguss dieser Skulptur besitzt“, betont der 45-jährige gebürtige Schweizer Forscher stolz. Bevor er vor zwei Jahren an die Universität Rostock kam, sammelte der studierte Archäologe im Rahmen eines Stipendiums des Schweizerischen Nationalfonds ein Jahr bei Ausgrabungen in Sizilien wissenschaftliche Erkenntnisse und forschte anschließend zwei Jahre am Berliner Antikenkolleg. Vom sitzenden Keiler ist gemäß Russenberger nur ein weiterer Abguss bekannt. Der sei im Ashmolean Museum in Oxford zu bestaunen, wohin er bereits 1774 gelangt war.

Was macht den Keiler so besonders? Dazu sagt der Kustos: „Der sitzende Keiler ist eine der qualitätsvollsten und eindrücklichsten Tierskulpturen, die aus der Antike überliefert sind. Sie besticht einerseits durch ihre naturnahe, sehr lebendige Darstellung, andererseits durch ihre dramatische Erzählweise: Der Keiler ist gerade dabei sich aufzurichten, offensichtlich wurde er von Jägern im Unterholz aufgescheucht; im nächsten Moment wird er zum Angriff übergehen. Vielleicht ist es der gewaltige kalydonische Eber aus dem Mythos des Meleagers und der Atalante, der sich vor uns aufrichtet? Als Betrachter wird man selbst unmittelbar in diese Handlung hineingezogen, da man ja nur den Keiler vor sich hat, nicht aber die Jäger: Man tritt dem Tier gewissermaßen auf Augenhöhe gegenüber und wird selbst zum Teil des Geschehens. Beides, der starke Realismus und die unmittelbare Einbeziehung des Betrachters, ist typisch für die griechische Kunst des Hellenismus, der Zeit vom 3. bis 1. Jahrhundert v. Chr.“

Warum der Abguss des sitzenden Keilers überhaupt nach Mecklenburg kam, kann Christian Russenberger trotz umfangreicher Recherchen nicht schlüssig beantworten. Fest stehe, dass der Abguss zwischen 1872 und 1887 für die Sammlung von Friedrich Franz II., dem Großherzog von Mecklenburg-Vorpommern erworben wurde. Ihm wird Jagdleidenschaft nachgesagt. Fest steht auch: Der Abguss gelangte 1919 mit rund 200 weiteren Stücken aus Schwerin in die Universitätssammlung von Rostock. Hier hat die Skulptur als eine von wenigen den weitgehenden Untergang der Rostocker Abguss-Sammlung im Verlauf der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts überdauert.

Während der unsachgemäßen Einlagerung eines Teils der Abgüsse auf dem Dachboden des Hauptgebäudes der Universität in der Nachkriegszeit erlitt auch der sitzende Keiler erhebliche Schäden. Um das Stück wieder präsentieren zu können, waren deshalb umfassende Ergänzungen und eine vollständige Überarbeitung der Oberfläche notwendig. Der Rostocker Restaurator Heiko Brandner sowie die Bildhauer Ute und Michael Mohns haben diese Arbeiten in enger Abstimmung mit den Archäologen durchgeführt. Die antike Originalplastik, auf die der Abguss in Rostock zurückgeht, steht in den Uffizien in Florenz, also einem der bekanntesten Kunstmuseen der Welt.

Die archäologische Lehrsammlung der Universität Rostock wird vorrangig für den akademischen Unterricht genutzt. Während des Semesters ist sie aber auch für die Öffentlichkeit zugänglich. „Dass dies bereits im kommenden Wintersemester wieder möglich sein wird, ist leider eher unwahrscheinlich. Als Universitätssammlung fehlen uns die Ressourcen, um die erforderlichen Hygienekonzepte umsetzen zu können“, sagt der Kustos. Und dabei wird deutlich, dass er es kaum erwarten kann, den sitzenden Keiler und die vielen weiteren Abgüsse nach Meisterwerken der griechischen und römischen Plastik schon bald wieder zahlreichen Sammlungsbesuchern präsentieren zu können.

Die bedeutende Sammlung der Universität Rostock besteht aus drei Teilen. Da ist zum einen die Originalsammlung altägyptischer, griechischer und römischer Artefakte. „Zumeist handelt es sich um Objekte der Kleinkunst wie Vasen, Keramikfiguren oder Lampen“, sagt der Kustos. Auch Objekte aus den legendären Grabungen Heinrich Schliemanns in Troja befinden sich darunter. Besonders eindrucksvoll sind mehrere großformatige römische Marmorwerke, darunter der Rostocker Adonis-Sarkophag, sowie bemalte Holzsarkophage und Mumienmasken aus Abusir El-Meleq in Unterägypten. Eine bedeutende Vergrößerung dieses Teils der Sammlung erfolgte 2008. Damals konnte die Sammlung des Instituts für Altertumswissenschaften der Universität Greifswald als Dauerleihgabe nach Rostock übernommen werden. Den zweiten Teil der Rostocker Antikensammlung bilden die Bestände des ehemaligen akademischen Münzkabinetts mit mehreren tausend Münzen aus antiken, aber auch byzantinischen, orientalischen und neuzeitlichen Prägestätten. Der dritte Teil der Sammlung besteht schließlich aus den Gipsabgüssen nach griechischen und römischen Skulpturen, zu denen auch das neu restaurierte Glanzstück, der sitzende Keiler, gehört. Text: Wolfgang Thiel

Kontakt:
Dr. Christian Russenberger
Heinrich-Schliemann-Institut für Altertumswissenschaften
Universität Rostock
Tel.: +49 381 498-2782
christian.russenbergeruni-rostockde

 

 

 

 


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