Forscher:innen rekonstruieren Vergangenheit der Ostsee, um künftiges Verhalten des Meeres voraus zu sagen

Leonie Barghorn hält ein "Argo Float", ein Driftkörper, der sich mit den Meeresströmungen mitbewegt und Daten aufzeichnet.
Leonie Barghorn bereitet eine Messsonde auf ihren nächsten Einsatz vor.

Leonie Barghorn, Doktorandin der Universität Rostock, fühlt sich schon immer am Meer zu Hause. Die 26-jährige gebürtige Hamburgerin, die in Göttingen Physik studierte, war im Februar mit dem Forschungsschiff „Elisabeth Mann Borgese" (EMB) mit elf weiteren Wissenschaftler:innen vom Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) auf der Ostsee unterwegs. Sie haben dort biologische, chemische und physikalische Prozesse, die im Meer ablaufen, untersucht. Leonie Barghorn war auf dem Forschungsschiff für eine Sonde zuständig, die im Wasser in unterschiedlichen Tiefen unter anderem Salzgehalt, Sauerstoff und Temperatur misst. Wie man sich das vorstellen muss, erläutert die Forscherin so: “Das Forschungsschiff steuert festgelegte Stationen, also bestimmte Koordinaten, in der Ostsee an. Wenn wir an einer Station angekommen sind, öffnen wir an der Seite des Schiffs eine Luke, aus der wir die Sonde ins Wasser lassen. Anschließend fahren wir sie in die Tiefe, bis sie kurz über dem Meeresboden ankommt. Da müssen wir gut aufpassen, dass wir die Sonde rechtzeitig anhalten und nicht auf den Meeresboden aufsetzen. Auf diese Weise können wir über die gesamte Tiefe des Wassers Messdaten aufnehmen. Außerdem sind rund um die Sonde Zylinder angebracht, die wir in gewünschten Tiefen schließen können, um Wasserproben zu nehmen.“

Leonie Barghorn, die seit 2022 in der Arbeitsgruppe „Dynamik regionaler Klimasysteme“ von Prof. Markus Meier promoviert, interessiert sich vor allem für den Salzgehalt der Ostsee. Die Ostsee sei ein spezielles Meer, weil ihr Salzgehalt zwischen dem der Ozeane und Süßwassergewässer liege, sagt die Doktorandin. Das liege daran, dass die Ostsee nur eine kleine Verbindung zur Nordsee habe, durch die Salzwasser in die Ostsee gelange. Gleichzeitig versorgen insbesondere im nördlichen Teil des Meeres zahlreiche Flüsse die Ostsee mit Süßwasser. Nahe der Nordsee sei das Wasser in der Ostsee deshalb salziger als weiter davon entfernt. Daraus ergeben sich schwierige Bedingungen für viele Lebewesen. Denn: die meisten Wasserorganismen fühlen sich entweder im Salz- oder Süßwasser wohl. Nur wenige sind auf das „Brackwasser“ der Ostsee spezialisiert. Deshalb würde es sich auf die Ökosysteme der Ostsee auswirken, wenn sich die Verteilung des Salzes veränderte.

Noch können Forscher:innen nicht vorhersagen, ob und wie sich der Klimawandel auf den Salzgehalt der Ostsee auswirkt. Leonie Barghorn möchte dazu beitragen, dieses Rätsel zu lösen. Aktuell geht sie der Hypothese nach, wonach in den letzten Jahrzehnten vermehrt in den Sommermonaten Salzwasser aus der Nordsee in die Ostsee gelangt ist. Normalerweise passiert dies vor allem im Winter, da es dann häufig starke Westwinde gibt, die Salzwasser aus der Nordsee in die Ostsee drücken. Seit Ende des 20. Jahrhunderts kommt es jedoch auch im Sommer und Herbst häufiger zu größeren Einströmen. „Sie sorgen dafür, dass ungewöhnlich warmes Wasser von der Oberfläche der Nordsee in tiefere Schichten der westlichen Ostsee gelangt“, sagt die Doktorandin. Wie sich die starke Erwärmung auf die Lebewesen dort auswirkt, muss noch untersucht werden.

Messdaten vom Forschungsschiff sind ein Baustein für Leonie Barghorns Forschung. Der andere ist ein Computermodell, mit dem sie versucht, die Vergangenheit der Ostsee von 1850 bis heute zu rekonstruieren. Denn je genauer Forscher:innen wissen, wie sich die Ostsee in der Vergangenheit verhalten hat, desto eher können sie die Zukunft der Ostsee vorhersagen. Wie kann man sich das vorstellen? „Im Computer versuchen wir, die Ostsee so realistisch wie möglich nachzubilden. Dafür beschreiben wir anhand von Gleichungen, welche physikalischen Prozesse im Wasser wirken – beispielsweise die Meeresströmungen oder die Verteilung von Wärme. Für die Rekonstruktion ab 1850 muss das Computermodell außerdem wissen, welche Bedingungen in diesem Zeitraum an der Meeresoberfläche und am Übergang zur Nordsee vorgeherrscht haben und wann wie viel Süßwasser aus Flüssen in die Ostsee gelangt ist. Diese sogenannten „Randbedingungen“ haben wir aus Messdaten und Ergebnissen von Klimamodellen zusammengestellt.“ Die ersten Ostseemodelle wurden bereits Ende des 20. Jahrhunderts entwickelt und haben sich seitdem stetig verbessert. Sie liefern Daten von Orten in der Ostsee und Zeiträumen, zu denen es keine Messwerte gibt.

Auch ihre Freizeit verbringt die Doktorandin, wenn sie nicht gerade im Chor singt, Swing tanzt oder Bouldern geht, gerne an der Ostsee, die sie aus ihrem Büro im IOW sogar sehen kann. Inzwischen weiß sie allerdings, dass sich hinter dem schönen Anblick ein Lebensraum verbirgt, der durch menschliche Einflüsse schweren Schaden genommen hat. Beispielsweise liegt in den tiefen Schichten der Ostsee die größte „Todeszone“ der Welt. Dort gibt es keinen Sauerstoff mehr und dementsprechend kaum Lebewesen. Das liegt in erster Linie daran, dass seit den 1960er Jahren vor allem aus der Landwirtschaft große Mengen Stickstoff und Phosphor in die Ostsee gelangt sind. Diese Chemikalien sind Nährstoffe für zahlreiche Algen, die sich deshalb stark ausgebreitet haben. Wenn die Algen absterben, werden sie am Meeresboden zu Futter für Mikroorganismen, die in der Tiefe den Sauerstoff verbrauchen.

Der Klimawandel verstärkt diesen Zustand, da in wärmerem Wasser erstens mehr Algen gedeihen und zweitens Sauerstoff sich schlechter löst. Da die Ostsee ein sehr flaches Meer ist, erwärmt sie sich überdurchschnittlich schnell. Die beiden Faktoren, Überdüngung und Klimaerwärmung, sind neben der Überfischung mitverantwortlich dafür, dass die Dorschbestände in der Ostsee extrem zurückgegangen sind. „Die Fische werden im Sommer gewissermaßen eingekesselt durch das sehr warme Wasser an der Oberfläche und das sauerstoffarme Wasser weiter unten und verlieren dadurch ihren Lebensraum und ihre Laichgründe.“

Leonie Barghorn gefällt an ihrer Arbeit, dass sie nicht nur spannend und vielfältig, sondern auch gesellschaftlich relevant ist. Nicht nur die Fischereiindustrie leidet unter dem schlechten Zustand der Ostsee – auch der Tourismus kann betroffen sein, wenn im Sommer Strandabschnitte wegen Blaualgenblüten gesperrt werden müssen. „Wir arbeiten deshalb nicht nur mit Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Disziplinen und Ländern zusammen, sondern auch mit Politiker:innen, Unternehmen und gesellschaftlichen Institutionen. Mit fortschreitendem Klimawandel wird diese Zusammenarbeit immer wichtiger werden.“


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