Sie macht dem Menschen das Leben schwer: die Stubenfliege. Fast niemand vermag ihr etwas Gutes abzugewinnen – viele empfinden diesen Vertreter der fliegenden Insekten lediglich als lästig und nervtötend. Dabei hat die Stubenfliege, auch als Hausfliege bekannt, mit ihren besonderen Flugkünsten die ganze Welt erobert. Denn Fliegen zählen zu den wendigsten Insekten und sind besonders agil in der Luft unterwegs.
„Als Stellvertreter für fliegende Insekten ist die Stubenfliege besonders interessant für die Wissenschaft, vor allem in der Bionik, also der Übersetzung biologischer Strukturen in Technologien“, sagt Professor Fritz-Olaf Lehmann, der seit 2012 den Lehrstuhl für Tierphysiologie an der Universität Rostock leitet. Der Rostocker Forscher stellte sich immer wieder die Frage: Wie kommt es zu den Abnutzungserscheinungen der Flügel? Um herauszufinden, wo und wie sich Stubenfliegen Schäden an ihren Flügeln zuziehen, hat sich Lehmanns Doktorandin Henja-Niniane Wehmann intensiv mit der Fliege beschäftigt. Sie wollte wissen, wodurch Fliegenflügel den größten Schaden erleiden und wann die Grenze erreicht ist – also wie viele Flügelschäden dazu führen, dass das Individuum sich nicht mehr in der Luft halten kann.
Dafür wurden mehr als 100 Hausfliegen in kleineren und größeren Laborgefäßen beobachtet. Über die gesamte Lebensdauer der Tiere – diese kann zwischen 18 und 60 Tage variieren – wurden deren linke und rechte Flügelflächen zwei bis drei Mal pro Woche mikroskopisch bestimmt. Gleichzeitig nahmen Mikrophone die Flugaktivität der Fliegen auf, also das als Summen hörbare Schlagen der Flügel. Insgesamt wertete das Team 7,7 Millionen Flüge in Form von Audiodateien aus, die auf einem Supercomputer in Frankreich gespeichert wurden.
Ergebnis der aufwendigen Studie: Einige der Probanden verloren im Laufe ihres Lebens kaum an Flügelfläche. Bei anderen Tieren waren zum Zeitpunkt ihres Todes nur noch Flügelstümpfe übrig. Außerdem erlitten die Fliegen, die in den kleineren Laborbehältnissen lebten, zwanzig Mal schneller Schäden als solche in größeren Experimentiergefäßen.
Der erste Flächenverlust, vor allem an den Spitzen und hinteren Kanten der empfindlichen Flügelmembranen, setzte bereits nach kurzer Zeit ein. „Nach im Mittel etwa sechs Stunden reiner Flugdauer werden diese Schäden zum ersten Mal sichtbar“, berichtet Fritz-Olaf Lehmann. Bis sie flugunfähig sei, könne die Hausfliege bis zu einem Drittel ihrer intakten Flügel verlieren. Interessant sei auch, ob der Flügelverlust symmetrisch zwischen linkem und rechtem Flügel stattfände, so Lehmann. Damit sich das Tier weiter in der Luft halten könne, dürfe der Unterschied nicht größer als 25 Prozent sein. Auch das Alter der Tiere spiele eine Rolle, denn erwartungsgemäß nähme die Anfälligkeit für Verletzungen der Flügel mit dem Alter der Tiere deutlich zu.
Aber wodurch kommt es nun zum Flügelverlust? Im Experiment kollidieren die schlagenden Flügel regelmäßig mit den Flügeln und Körpern fliegender Artgenossen, aber auch mit den Wänden der Fluggefäße. Letzteres, so Lehmann, sei durchaus ein realistisches Szenario in der Natur, beispielsweise beim Landeanflug auf ein Pflanzenblatt, beim Paarungsverhalten oder, wenn Libellen Jagd auf Fliegen machten. Um von den Verletzungen der Flügel Rückschlüsse auf die Fitness der Tiere zu ziehen, benötige man jedoch weitere Experimente, so der Tierphysiologe. „Die Untersuchung im Labor ist in diesem Zusammenhang aber bisher einzigartig.“
„Bei unserer Forschung handelt es sich um ein Puzzleteil an der Schnittstelle zwischen Biomechanik, Verhaltensforschung und Aerodynamik“, erläutert die Rostocker Biologin Henja-Niniane Wehmann. Fliegen seien hier besonders spannend zu untersuchen, da sie sich leicht im Labor halten ließen und sich schnell vermehrten. „Der Insektenflug funktioniert anders als der von Flugzeugen oder großen Vögeln. Weil Insekten im Gegensatz zu Flugzeugen mit den Flügeln schlagen, müssen sie ganz andere Mechanismen für das Fliegen nutzen. Fliegende Tiere beschleunigen zum Fliegen die Luft vertikal nach unten und erhalten dadurch einen Impuls vertikal nach oben“, berichtet Wehmann. „Ist dieser gleich groß oder größer als das Körpergewicht, kann das Tier schweben oder vorwärts fliegen. Da gibt es noch viel zu erforschen“, so die Wissenschaftlerin.
Die Mechanismen des Insektenflugs schaut man sich auch in der so genannten biomimetischen Forschung, ein Teil der Bionik, ab. In der weiten Zukunft, so Fritz-Olaf Lehmann, könnten beispielsweise kleine, flügelschlagende Drohnen in Schwärmen zur Beobachtung in der Meteorologie und beim Umweltmonitoring eingesetzt werden.Text: Wolfgang Thiel
Publikation: Wehmann, H.-N. et al. (2022). Flight activity and age cause wing damage in house flies. Journal of Experimental Biology, 225(1), jeb242872. https://doi.org/10.1242/jeb.242872
Kontakt:
Prof. Dr. Fritz-Olaf Lehmann
Universität Rostock
Institut für Biowissenschaften
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fritz.lehmannuni-rostockde
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