Prekarität, Verletzbarkeit und Widerstand - Queer-Feministische Perspektiven
Wintersemester 2017/18
In queer-feministischen Diskursen spielt Prekarität eine zentrale Rolle, besonders dann, wenn diese erst, wie derzeit beobachtbar, eine Debatte des öffentlichen Diskurses wird, wenn normativ-männliche Gesellschaftsmitglieder davon betroffen sind. Doch die gegenwärtige Veränderung der Erwerbsarbeitswelt hat nicht nur das Sichtbarwerden und die Verbreitung sozioökonomischer Ungleichheiten zur Folge, sondern bietet gleichzeitig Chancen, diese – und damit auch Gesellschaftsstrukturen (auch auf transnationaler Ebene) – neu zu denken. Unter einer queer-feministischen Perspektivierung von Prekarität bzw. Prekarisierung soll daher verstanden werden, diese einerseits als Herstellungsmechanismus strategischer Verletzbarkeit zu hinterfragen, andererseits dem diesem Prozess innewohnenden Potential der Innovation und des Widerstands einen Resonanzraum zu geben. Ausgehend von Konzepten zur Klassengesellschaft, die sich seit den schwarzen, marxistisch geprägten Feminist*innen wie Audre Lorde und bell hooks in den Diskurs der Identitätsdiskussionen einreihen und sich gleichzeitig radikal von diesem abgrenzen, soll versucht werden, Prekarität zunächst einmal in queerfeministische Gegenwartsdiskurse einzuordnen. Dabei handelt es sich nicht nur um Beschäftigungsverhältnisse, sondern auch, wie Judith Butler 2010 beobachtet, um die damit zusammenhängenden „precarious lives“ – verletzbare Leben. Diese Verletzbarkeit ist Teil der Prekarität und soll hier nicht nur im materiellen Sinne gedacht werden, sondern als genauso wirtschaftliches wie soziokulturelles Phänomen verstanden werden. Auf der einen Seiten haben die gravierenden Veränderungen der Arbeitswelt neue soziale Ungleichheiten zur Folge. Auf der anderen Seite weist die Prekarisierung auf die Entwicklung einer innovativen Zwischenzone uneindeutiger Erwerbsverläufe und Identitätsentwicklungen sowie produktiv verunsicherter soziokultureller Konstruiertheit hin. Ziel der Vorlesungsreihe ist es, diese epistemische Spannung zu ergründen. Die Vorlesung ist interdisziplinär strukturiert und soll die Perspektiven von Wissenschaftler*innen aus den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sowie den Kultur-, Sprach- und Literaturwissenschaften zusammenbringen. Dabei geht es nicht nur um die gegenwärtigen Debatten, sondern auch um eine historische Verankerung dieser, um die Darstellbarkeit und Fiktionalisierung und um Perspektiven in die Zukunft.
Verschiedene Fragestellungen können in diesem Rahmen leitend sein:
– Welcher Zusammenhang besteht zwischen prekären Arbeits- und Lebensformen? Wie können queer-feministische Ansätze diesen Zusammenhang beschreiben?
– Wie entstehen prekäre Lebens- und Arbeitsformen? Wie (re-)produzieren sich Ungleichheiten? Welche Rolle spielen Geschlecht, Ethnie, Klasse und Sexualität dabei?
– Welche sozialen/ökonomischen/kulturellen/politischen Faktoren tragen zu einer Prekarisierung sozialer Gruppen oder von Einzelpersonen bei? Inwiefern kann hier von einer strategischen Herstellung von Verletzbarkeit gesprochen werden?
– Wie wirkt die Prekarisierung von Erberbsverläufen und Identitäten im Zusammenhang mit transnationalen Migrationsbewegungen?
– Welche Rollen nehmen unterschiedliche Familien- und Lebensformen sowie soziale Netzwerke im Prozess ein? Kann von einer Vervielfältigung von Lebensund Familienformen gesprochen werden? Werden soziale Netzwerke restrukturiert?
– Inwieweit ist die Reproduktions- und Carearbeit von Prekarisierungsprozessen beeinflusst? Ist ein Wandel zum #self-care diagnostizierbar?
– Wie wird die Dynamik des Prekären in verschiedenen Medien aufgegriffen und repräsentiert? Ist Prekarität repräsentierbar?
– Welche Rolle spielt eine Umstrukturierung von Arbeitsverhältnissen in der digitalen / technologisch geprägten Gesellschaft?
– Inwiefern ist Prekarisierung ein geregelter Prozess? Führt Prekarisierung zu neuen Formen des Protests?